Selen - Se, Ordnungszahl 34
Selen Preise, Vorkommen, Gewinnung und Verwendung
Selen [zeˈleːn] ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Se und der Ordnungszahl 34. Im Periodensystem steht es in der 4. Periode sowie der 6. Hauptgruppe, bzw. der 16. IUPAC-Gruppe, zählt also zu den Chalkogenen. Es kommt in mehreren Modifikationen vor, die stabilste ist die graue, metallähnliche Form.
Geschichte
Selen (griech. σελήνη [selḗnē], „Mond“) wurde 1817 von Jöns Jakob Berzelius im Bleikammerschlamm einer Schwefelsäurefabrik entdeckt; zuerst hielt Berzelius die Substanz für Tellur (von lateinisch tellus ‚Erde‘), zu dem Selen einige Ähnlichkeiten aufweist; so entwickelt sich bei der Verbrennung beider Elemente ein ausgeprägter Geruch nach Rettich. 1818 schloss Berzelius im Rahmen seiner Experimente aber, dass es sich um ein neues Element handelte; um auf die Ähnlichkeit zum Tellur (Erde) hinzuweisen nannte er es Selen (Mond).
Vorkommen
In der unbelebten Natur und bei industriellen Prozessen spielen vor allem die anorganischen Verbindungen eine Rolle. In der belebten Natur dominieren die organischen Verbindungen. In Hefen und Pflanzen kommt Selen vor allem als Selenomethionin vor. Als essentielles Spurenelement ist Selen Bestandteil der 21. biogenen Aminosäure Selenocystein, sowie in Bakterien, Archaea und Eukaryoten enthalten. Tiere bilden kein Selenomethionin, wohl aber Selenocystein. Selenocystein ist der spezifische katalytische Bestandteil der selenabhängigen Enzyme. Im Gegensatz dazu wird Selenomethionin an Stelle von Methionin unspezifisch in viele Proteine eingebaut, ohne dabei eine Funktion auszuüben; es wird als Selenspeicherform angesehen. Die Menge von Selen in Nahrungsmitteln hängt stark vom Selengehalt des Bodens ab. Selenarme Böden in Europa finden sich insbesondere in Deutschland, Schottland, Dänemark, Finnland, in Teilen der Balkanländer und in der Schweiz. In manchen selenarmen Gebieten werden dem Boden selenathaltige Düngemittel zugeführt, z. B. in Finnland seit 1984.
In kleinen Mengen kommt gediegenes Selen natürlich vor. Selenmineralien wie Clausthalit und Naumannit sind selten.
Selen ist, meist in Form von Metallseleniden, Begleiter schwefelhaltiger Erze der Metalle Kupfer, Blei, Zink, Gold und Eisen. Beim Abrösten dieser Erze sammelt sich das feste Selendioxid in der Flugasche oder in der nachgeschalteten Schwefelsäureherstellung als Selenige Säure.
Selen kann in Tragant-Arten, in Brassica oder im Knoblauch als Se-Methylselenocystein angereichert werden. Die reichhaltigste bekannte Selenquelle unter den Nahrungsmitteln ist die Paranuss.
Gewinnung und Darstellung
Industriell gewinnt man Selen als Nebenprodukt bei der elektrolytischen Kupfer- und Nickelherstellung aus dem Anodenschlamm durch Abrösten.
Die Reduktion zum elementaren Selen erfolgt durch Schwefeldioxid:
Im Labormaßstab kann Selen über die Umsetzung von Seleniger Säure mit Iodwasserstoff dargestellt werden.
Organisch gebundenes Selen
In der Lebensmittelergänzung und Tierernährung (in der Tierernährung in der EU seit Mai 2005 zugelassen) wird seit einigen Jahren eine organische Selenquelle eingesetzt, die durch die Zucht bestimmter Brauhefen des Typs Saccharomyces cerevisiae (Sel-Plex, Lalmin(TM)) auf selenreichem Nährmedium (Melasse und Natriumselenit) erzeugt wird. Hefen synthetisieren hohe Anteile an Selenomethionin als Aminosäure und binden so bis zu 2000 ppm Selen auf organische Weise. Die größte Anlage zur Erzeugung solcher natürlicher Selenhefen wurde 2004 in São Pedro im brasilianischen Bundesstaat Paraná errichtet.
Eigenschaften
Selen kommt wie Schwefel in mehreren Modifikationen vor:
Rotes Selen, löslich in Kohlenstoffdisulfid, besteht zu etwa 30 % aus Se8-Ringen und zu 70 % aus Se8+n, welches sich oberhalb 80 °C in das graue Halbleitermetall umwandelt. Elementares rotes Selen ist ein Isolator.
Schwarzes amorphes Selen, das sich oberhalb 60 °C in das schwarze, glasartige Selen umwandelt. Beide Formen wandeln sich beim Erwärmen oberhalb von 80 °C in die graue, halbmetallische Modifikation um.
Graues „metallisches“ Selen ist die stabilste Modifikation und verhält sich wie ein Halbmetall.
Oberhalb des Schmelzpunktes von 220 °C bildet es eine schwarze Flüssigkeit. Der bei weiterer Temperaturerhöhung entstehende Selendampf ist gelb.
Bei Abscheidung aus der Dampfphase an einer kühleren Oberfläche (um einiges unter dem Schmelzpunkt) scheidet es sich in Form hexagonaler, metallisch-grauer Kristallnadeln ab.
Die Bandlücke des Selens beträgt etwa 1,74 eV (an der Grenze vom sichtbaren Licht zum Infrarot).
Durch Belichtung ändert es seine elektrische Leitfähigkeit. Zusätzlich zeigt es einen photovoltaischen Effekt. Die Leitfähigkeit wird nicht durch Elektronen in einem Leitungsband verursacht, sondern durch Leitung von Löchern (siehe bei Elektrische Leitfähigkeit und Defektelektron), also positiv geladenen Elektronenfehlstellen, wodurch unter anderem das Vorzeichen des Hall-Effekts negativ wird. Als Mechanismus für diese Löcherleitung wird eine so genannte „Hopping-Leitfähigkeit“ (der Löcher von einer Kristallfehlstelle zur nächsten) vorgeschlagen.
Beim Erhitzen in Luft verbrennt Selen mit blauer Flamme zum Selendioxid, SeO2. Oberhalb von 400 °C setzt es sich mit Wasserstoff zum Selenwasserstoff, H2Se, um. Mit Metallen bildet es in der Regel Selenide, zum Beispiel Natriumselenid, Na2Se.
Das chemische Verhalten ist dem Schwefel ähnlich, allerdings ist Selen schwerer oxidierbar. Die Reaktion mit Salpetersäure bildet „nur“ Selenige Säure, eine Selen(IV)-Verbindung.
Isotope
Das Selen weist eine Vielzahl von Isotopen auf. Von den sechs natürlich vorkommenden Isotopen sind fünf stabil. Dabei sind die Anteile folgendermaßen verteilt: 74Se (0,9 %), 76Se (9,0 %), 77Se (7,6 %), 78Se (23,6 %), 80Se (49,7 %) und 82Se (9,2 %).
82Se als einziges natürlich vorkommendes radioaktives Isotop besitzt mit ca. 1020 Jahren eine der längsten derzeitig bekannten Halbwertszeiten überhaupt. Daneben kennt man weitere 22 radioaktive Isotope, unter denen 75Se mit einer Halbwertszeit von 120 Tagen und 79Se mit einer Halbwertszeit von 327.000 Jahren besondere Bedeutung haben. 75Se findet zur Konstruktion spezieller Gammastrahlenquellen zur zerstörungsfreien Prüfung von z. B. Schweißnähten Anwendung. 75Se dient in der Nuklearmedizin in Verbindung mit Methionin als Tracer zur Beurteilung der Pankreasfunktion und mit Homotaurocholsäure (SeHCAT) zur Beurteilung der Resorption von Gallensäuren. 79Se ist Bestandteil von abgebranntem Kernbrennmaterial, wo es bei der Spaltung von Uran mit einer Häufigkeit von 0,04 % entsteht.
Das seltenste der stabilen Isotope 74Se hat eine gewisse Bedeutung als Spekulationsobjekt erlangt. Es wird immer wieder zu sehr hohen Preisen auf dem Markt angeboten. Außer einigen sehr spezialisierten Anwendungen in der Forschung, wo es zu Markierungszwecken dient, ist für dieses Material jedoch keine besondere technische Verwendung bekannt.
Verwendung
Selen ist für alle Lebensformen essentiell. Selenverbindungen werden daher als Nahrungsergänzung angeboten und zu Futter- und Düngemittelzusätzen verarbeitet. In der Glasindustrie verwendet man es zum Entfärben grüner Gläser sowie zur Herstellung rotgefärbter Gläser. Weitere Anwendungen:
- Belichtungstrommeln für Fotokopierer und Laserdrucker
- Halbleiterherstellung
- Latexzusatz zur Erhöhung der Abrasionsbeständigkeit
- Toner für Schwarz-Weiß-Fotografien zur Kontrasterhöhung (helle Töne bleiben unverändert, man kann dunklere Schwärzen erreichen, die dunklen Teile wirken insgesamt plastischer), Haltbarkeitserhöhung (nicht eindeutig nachgewiesen) und zur leichten
- Färbung der dunklen Bildbestandteile ins aubergine-farbene (ebenfalls zur Plastizitätserhöhung)
zur Herstellung roter Farbpigmente auf der Basis von Cadmiumselenid (wegen des Cadmiumgehaltes heute eher selten) - Legierungszusatz zur Verbesserung der mechanischen Bearbeitbarkeit für Automatenstähle und Kupfer-Legierungen
- Verwendung in dem Selen-Gleichrichter und der Selen-Zelle, heute allerdings weitgehend durch Silicium (Halbleiter) abgelöst.
zur Brünierung von Aluminium, Messing o. Ä. (Selendioxid) - mit Kupfer und Indium Bestandteil der photoaktiven Schicht von CIGS-Solarzellen
- in analogen Belichtungsmessern für die Fotografie
- Anti-Schuppen-Haarshampoos und Vorbeugung / Therapie von Pityriasis versicolor, einer durch einen Hefepilz verursachten
- Hauterkrankung
- unterstützend in der HIV-Therapie (günstiger Effekt bezüglich der HI-Viruslast umstritten)
- Umsetzung mit Grignard-Verbindungen, R–Mg–Hal, führt zu Organoselenverbindungen, R-Se-Mg-Hal, aus denen sich durch Hydrolyse Selenole, R–Se–H herstellen lassen
- Als Zinkselenid wird es zur Herstellung optisch hochreflektiver Oberflächen verwendet, im Infrarotbereich ist es aber transparent und wird hier zur Herstellung von Fenstern und Fokuslinsen für z. B. CO2-Laser verwendet
- Größere Mengen von Selendioxid werden bei der Elektrolyse von Mangan verbraucht. Der Zusatz von Selendioxid verringert den
- Energieverbrauch bei der Elektrolyse. Pro Tonne Mangan werden bis zu 2 kg Selendioxid verbraucht.
Biologische Bedeutung
Selen ist ein essentielles Spurenelement für Menschen, Tiere und viele Bakterien. In der Milchviehfütterung wird Selen zugesetzt, da der natürliche Selengehalt der Futtermittel oft nicht zur Versorgung der Nutztiere ausreicht. Das deutsche Futtermittelrecht erwähnt zur Ergänzung der Selenversorgung nur die beiden anorganischen Selenquellen Natriumselenit und -selenat als Futterzusatzstoffe. Diese beiden Verbindungen sind ökonomisch sehr günstig, haben aber den Nachteil einer geringen Bioverfügbarkeit. Selen wirkt in höheren Konzentrationen jedoch stark toxisch, wobei die Spanne zwischen Konzentrationen, die Mangelerscheinungen hervorrufen, und toxischen Konzentrationen sehr gering ist. Zudem ist die Toxizität von Selen abhängig von der chemischen Bindungsform.
Selen ist in Selenocystein enthalten, einer Aminosäure im aktiven Zentrum des Enzyms Glutathionperoxidase und vieler weiterer Proteine. Wegen seiner hohen Reaktivität mit Sauerstoff spielt Selen bei Tieren und Menschen eine wichtige Rolle beim Schutz der Zellmembranen vor oxidativer Zerstörung (Radikalfänger). Das selenenthaltende Enzym Glutathionperoxidase, welches in allen tierischen Zellen vorkommt, ist entscheidend am Abbau von membranschädigenden Oxidanzien sowie Radikalfolgeprodukten beteiligt. Durch eine reduzierte Glutathionperoxidaseaktivität lassen sich eine Reihe von Selenmangelsyndromen erklären. Ein solcher Zusammenhang wird für Herz-Kreislauf-Erkrankungen diskutiert. Auch die experimentelle Hypertonie an der Ratte kann durch prophylaktische Selengabe wesentlich reduziert werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die protektive Selenwirkung bei der Kryokonservierung von Herzmuskelfragmenten.
Selenocystein ist auch am Katalysemechanismus weiterer Enzyme beteiligt und in vielen Proteinen enthalten, deren Bedeutung noch nicht geklärt ist.
Diskussion um Selen
Bevor eine Arbeitsgruppe um Klaus Schwarz am National Institute of Health (USA) Selen als essentiellen Nahrungsbestandteil der Tiere entdeckte, galt Selen als toxische Substanz. In den 1930er Jahren machten Veterinäre in den „Great Plains“ die hohe Aufnahme selenhaltiger Pflanzen für die Alkali-Krankheit und die Blind-Ataxie der Rinder verantwortlich, andererseits berichtete eine Forschergruppe um Schwarz in den 1950er Jahren, dass Selen einer nekrotischen Leberdegeneration vorbeugt. Etwa gleichzeitig stellte eine Gruppe von Forschern der Oregon State University, der auch O. H. Muth und J. E. Oldfield angehörten, ein Selendefizit bei schwachen Kälbern fest. Später wies Hogue nach, dass Selen der Muskeldystrophie der Lämmer vorbeugt. Diesen Berichten folgend haben Forscher verschiedener Einrichtungen Studien zum Nutzen der Selensupplementierung auf Leistung und Gesundheit des Milchviehs begonnen. Es wurde beschrieben, dass Selen vorrangig an der Katalyse des Glutathionperoxidase (GSH-Px)-Systems beteiligt ist. Verschiedene Isoformen der GSH-Px zerstören die während des normalen Fettstoffwechsels gebildeten Peroxide (reaktive Sauerstoffverbindungen). Wenn Peroxide ungehindert in der Zelle verbleiben, greifen sie die Zellmembranen an und destabilisieren sie. Hemken erklärte, dass Selen auch an der Entgiftung gefährlicher Medikamente oder Toxine beteiligt ist. Selen spielt bei Tieren noch in mindestens zwei weiteren Enzym-Systemen eine Rolle: bei der Iodthyronin-Deiodase, einem Enzym, welches das Schilddrüsenhormon T4 aktiviert, und bei der Thioredoxin-Reduktase, einem Enzym, das die reduzierenden Reaktionen reguliert. Bestimmte Plasma-, Herz-, Muskel- und Nierenproteine enthalten Selen. Jedoch ist die Funktion des Selens in diesen Proteinen noch in weiten Bereichen unklar.
Es gibt viele verschiedene Selenoproteine. In den Selenoproteinen ist meist Selenocystein enthalten, das auch als 21. Aminosäure bekannt ist und während der Proteinbiosynthese über eine eigene tRNA eingebaut wird. Selenoproteine kommen in dieser Funktion nur in tierischen Organismen, Bakterien und Archaeen vor. Pflanzen bauen Selen je nach Bodengehalt anstelle des Schwefels unspezifisch in Aminosäuren ein, besonders in Methionin (Se-Methionin) und in geringem Umfang auch Cystein (Se-Cystein) bzw. Derivate davon (Methyl-Se-Cystein). Nur die sogenannten „Selensammlerpflanzen“ (Selenakkumulator-Pflanzen, z. B. Paradiesnuss), die in selenreichen, ariden Gebieten vorkommen, speichern Selen darüber hinaus auch als organisch gebundenes, wasserlösliches Selen oder Selensalze.
Bis dato wurden mindestens 25 Gene für Selenoproteine im menschlichen Genom entdeckt:
- Glutathionperoxidase 1 (GSHPx-1), die zelluläre oder klassische Glutathionperoxidase (im Zytosol, Mitochondrienmatrix);
- Glutathionperoxidase 2 (GSHPx-2), die gastrointestinale Glutathionperoxidase (in der Darmschleimhaut);
- Glutathionperoxidase 3 (GSHPx-3), die extrazelluläre oder Plasmaglutathionperoxidase (im Plasma);
- Glutathionperoxidase 4 (GSHPx-4), die Phospholipidhydroperoxidglutathionperoxidase (an Lipidmembranen, Strukturprotein im
- Schwanzstück von Spermien); → antioxidative Enzyme, die Peroxidradikale neutralisieren
- Thioredoxinreduktase (TrxR) → reduziert das Thioredoxin, das wichtig für das Zellwachstum ist, aber auch zahlreiche weitere
- niedermolekulare und hochmolekulare Substrate.
- Iodthyronin-5′-deiodinasen (Schilddrüsenhormondeiodinasen) (ID-I, ID-II, ID-III) → katalysieren Schilddrüsenhormone, zum Beispiel Entfernung eines Iod-Atoms aus T4 (Thyroxin), wodurch T3 (Triiodthyronin) entsteht
- Selenoprotein P (Se-P) → sehr wichtig als Transportprotein von Selen von und zu den Zellen; enthält 10 Selenatome
- Selenoprotein W → in der Muskulatur; Rolle noch unbekannt
- Selenphosphatsynthetase → katalysiert die Synthese von Monoselenophosphat, einem Vorläufer von Selenocystein
- H. Selenoprotein, M, N, O, I, K, S, V → Funktion dieser Selenoproteine ist noch weitgehend unverstanden. Mutationen des SEPN1-Gens wurden bei der Multicore-Myopathie beschrieben.
- Selenoprotein R = Methionine Sulfoxid Reduktase
- Selenophosphatase Synthetase 2 → katalysiert die Produktion von Selenophosphat
Selenmangelkrankheiten
Bekannte Selenmangelkrankheiten sind:
- Keshan-Krankheit (juvenile Kardiomyopathie), benannt nach der nordostchinesischen Stadt Keshan im Distrikt Heilongjiang in der Mandschurei
- Selenmangel begünstigt eine Mutation des harmlosen Coxsackievirus B3 (CVB3/0), das dadurch virulent wird
Vorkommen: Tibet, Mongolei, Sibirien - Kaschin-Beck-Krankheit des Menschen (nutritive Gelenkknorpeldegeneration), benannt nach dem russischen Arzt Nikolai Iwanowitsch Kaschin und der Amerikanerin Melinda A. Beck, Vorkommen: Sibirien, Mongolei, Nordkorea, China; betroffen sind ca. 3 Millionen Menschen
- Epidemische Neuropathie des Menschen – Vorkommen: Kuba, Selenmangel verursacht eine Mutation des Influenza-A/Bangkok/1/79-Virus, das dadurch virulent wird
- Weißmuskelkrankheit (nutritive Myodegeneration (NMD), nutritive Muskeldystrophie, enzootische Myodystrophie, nutritive Rhabdomyolyse, nutritive Rhabdomyopathie, myopathisch-dyspnoisches Syndrom, Kälberrheumatismus, Hühnerfleischigkeit, Fischfleischigkeit), Vorkommen: in allen Selenmangelgebieten der Erde, Tierarten: Jungtiere von v. a. Wiederkäuern: Kälber, Lämmer, Zicklein, Dromedar- und Lamafohlen, Überlastungsmyopathie des ruminierenden Rindes (paralytische Myoglobinurie, exerzitionale Rhabdomyolyse), Vorkommen: in allen Selenmangelgebieten der Erde, Tierarten: v. a. Rinder ab acht Monaten
Selen als Nahrungsergänzungsmittel
In einer kritischen Bewertung der Pharmainformation vom Juni 2005 wird festgestellt, dass die bislang verfügbaren Studien keine Hinweise für einen Nutzen einer zusätzlichen Gabe von Selen in irgendeinem Zusammenhang erbringen konnten. Zwar scheint eine positive Beeinflussung verschiedener Krebsarten möglich, andererseits die Begünstigung anderer Karzinome nicht unwahrscheinlich. Die „SELECT“-Studie („Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial“) sollte diesbezüglich Auskunft geben und 2013 abgeschlossen werden. Allerdings wurde diese im Oktober 2008 abgebrochen, da während der Studie nachgewiesen werden konnte, dass es keine verbesserte Schutzwirkung im Vergleich zum Placebo gibt und ein Nutzen ausgeschlossen werden konnte. In dieser Studie wurde zwar sogar eine erhöhte Prostatakrebshäufigkeit unter der Gabe von Vitamin E und eine erhöhte Diabetesentstehung unter der Selengabe festgestellt, beides war aber nicht statistisch signifikant.
Im Rahmen der neuerlichen Auswertung von Daten einer Studie kam Saverio Stranges von der Universität in Buffalo zu dem Ergebnis, dass von den 600 Patienten, die Selen einnahmen (tägl. 200 µg) nach fast acht Jahren etwa zehn Prozent an Typ 2 Diabetes erkrankt waren. Bei der Placebo-Kontrollgruppe waren es lediglich sechs Prozent. Bis dato wurde noch keine potentielle Ursache für das erhöhte Diabetes-Risiko gefunden. Hohe Selenkonzentrationen im Blut korrelieren mit dem Risiko, an Diabetes zu erkranken. Somit kommt auch die Pharmainformation vom Februar 2008 zum Schluss: „Eine kritische Haltung gegenüber wenig belegten Konzepten, hinter denen natürlich ein großes finanzielles Interesse steht, hat sich wieder einmal bestätigt.“ Die Studienlage ist diesbezüglich jedoch nicht eindeutig. So werden der Studie von Stranges u. a. methodische Fehler unterstellt, etwa das Fehlen einer vorherigen Familienanamnese, die eine erhöhte familiäre Prävalenz von Diabetes mellitus innerhalb der Selengruppe hätte ausschließen müssen, sowie die Tatsache, dass die untersuchten Probanden Personen waren, die in hohem Maße Sonnenstrahlung und Chemikalien ausgesetzt waren, weswegen sich die Ergebnisse schlecht auf „durchschnittliche“ Probanden übertragen ließen. Zudem liege das Diabetes-Risiko sowohl in der Placebo- als auch in der Selengruppe unter dem amerikanischen Durchschnittswert. Andere Studien legen weiterhin einen hemmenden Effekt von Selen auf die Entwicklung von Diabetes mellitus nahe, darunter eine jüngst veröffentlichte von Tasnime Akbaraly (Universität Montpellier) durchgeführte Untersuchung an 1162 Männern und Frauen.
Auch eine Arbeit aus dem Jahr 2012 zeigt einen positiven Effekt von Selen nur dann, wenn ein Selenmangel besteht, ansonsten kommt es eher zur Entwicklung eines Diabetes mellitus. Eine große Metastudie aus dem Jahr 2013 zeigt keinen protektiven Nutzen der Selensubstitution bezüglich Herz-Kreislauferkrankungen. Es gab zwar vermehrte Diabetes-2-Fälle in der Selen-Substitutionsgruppe, der Unterschied war jedoch nicht signifikant. Aber es kam vermehrt zu Alopezie und zu Dermatitis.
Natriumselenit und Schilddrüsenhormone
Selen spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion der Schilddrüsenhormone, genauer bei der „Aktivierung“ von Thyroxin (T4) zu Triiodthyronin (T3).
Selen ist Bestandteil eines Enzyms, der Thyroxin-5′-Deiodase, die für die Entfernung eines Iodatoms aus T4 verantwortlich ist. Durch diese Deiodierung entsteht T3. Ein Selenmangel führt zu einem Mangel an Thyroxin-5′-Deiodase, wodurch nur noch ein Teil des verfügbaren T4 deiodiert werden kann. Da T3 im Stoffwechsel wesentlich wirksamer ist, resultiert aus einem T3-Mangel eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). Eine zusätzliche Einnahme von Selenpräparaten (Natriumselenit) in hohen Dosen von 200–300 μg täglich z. B. bei Hashimoto-Thyreoiditis um die Entzündungsaktivität zu reduzieren, wird vereinzelt diskutiert.
Nachweise
Die quantitative Bestimmung von Spuren (0,003 %) an Selenat kann elektrochemisch mittels Polarografie erfolgen. In 0,1-molarer Ammoniumchloridlösung zeigt sich eine Stufe bei −1,50 V (gegen SCE). Im Ultraspurenbereich bietet sich die Atomspektrometrie an, wobei mittels Flammen-AAS 100 μg/l (ppb), per Graphitrohr-AAS 0,5 und per Hydridtechnik 0,01 µg/l Selen nachgewiesen werden können.
Sicherheitshinweise
Selen und Selenverbindungen sind giftig. Direkter Kontakt schädigt die Haut (Blasenbildung) und Schleimhäute. Eingeatmetes Selen kann zu langwierigen Lungenproblemen führen.
Eine Vergiftung durch übermäßige Aufnahme von Selen wird als Selenose bezeichnet. Eine Selen-Aufnahme von mehr als 3000 µg/d kann zu Leberzirrhose, Haarausfall und Herzinsuffizienz führen. Beschäftigte in der Elektronik-, Glas- und Farbenindustrie gelten als gefährdet. Nach anderen Quellen treten schon ab 400 µg/d Vergiftungserscheinungen auf wie Übelkeit und Erbrechen, Haarverlust, Nagelveränderungen, periphere Neuropathie und Erschöpfung.
Selenverbindungen
In Verbindungen tritt Selen am häufigsten in den Oxidationsstufen −II (Selenwasserstoff, Selenide) und +IV (Tetrahalogenide, Selendioxid und Selenate(IV), veraltet Selenite) auf. In den Selenidionen tritt Selen auch mit nicht-ganzzahligen negativen Oxidationszahlen auf. Seltenere positive Oxidationszahlen sind +I (Halogenide Se2X2) und +VI (Selenhexafluorid, Selensäure). Dabei sind Selenverbindungen mit der Oxidationszahl +VI stärkere Oxidationsmittel als die analogen Schwefel- und Tellurverbindungen. So lösen Mischungen aus konzentrierter Selen(VI)-säure mit Salzsäure Metalle wie Gold und Platin auf.
Wasserstoffverbindungen
Selenwasserstoff, H2Se, ist ein farbloses, sehr giftiges Gas, das durch Reaktion von Seleniden (MxSey) mit starken Säuren, zum Beispiel Salzsäure HCl, entsteht. Aus den Elementen (Wasserstoff und Selen) ist die Verbindung als stark endotherme Verbindung nur bei Temperaturen über 350 °C darstellbar. Selenwasserstoff zersetzt sich bei Zimmertemperatur langsam in die Elemente, der Zerfall wird durch Lichteinfluss beschleunigt. Die wässrige Lösung (Selenwasserstoffsäure) reagiert schwach sauer; die Säurestärke (Ks=1,88·10−4) liegt in der gleichen Größenordnung wie die von HNO2.
Selenide
Mit den meisten Metallen bildet Selen binäre Selenide, die das Selenid-Anion Se2− enthalten. Darüber hinaus sind Diselenide Se22− und Polyselenide Senm− bekannt, die durch die Reaktion eines Metalls mit einem Überschuss Selen erhalten werden können:
Die Synthese ist durch Zusammenschmelzen der Elemente oder in Lösung möglich. Die Selenide sind hydrolyse- und oxidationsempfindlich. Außer den ionischen Seleniden ist die molekulare Verbindung Kohlenstoffdiselenid, Se=C=Se, bekannt.
Sauerstoffverbindungen und Interchalkogene
Selendioxid (Selen(IV)-oxid) ist ein farbloser, kristalliner Feststoff, der durch Verbrennen von Selen an der Luft erhalten werden kann. In Wasser bildet es Selenige Säure, H2SeO3. Es ist ein relativ starkes Oxidationsmittel und wird leicht zu Selen reduziert.
Selentrioxid (Selen(VI)-oxid) kann durch Entwässerung von Selensäure, H2SeO4 gewonnen werden. Es ist ebenfalls ein kristalliner Feststoff und ein starkes Oxidationsmittel.
Daneben gibt es die festen, kristallinen, gemischtvalenten Selen(IV,VI)oxide Se2O5 und Se3O7.
Selenmonoxid, SeO, ist nur als instabile Zwischenstufe bekannt.
Selensulfid SeS ≈2 (eine unstöchiometrische Selen-Schwefel-Verbindung, die aus schwefelähnlichen cyklischen Molekülen variabler Größe und Zusammensetzung besteht, wegen des ungefähren Verhältnisses SeS2 auch Selendisulfid genannt).
Selenate sind die Salze der Selensäure mit den Anionen SeO42−. Orthoselenate wie das trigonal-bipyramidale Anion SeO54− und das oktaedrische SeO66− werden nur selten beobachtet.
Selenhalogenide
Selenhexafluorid ist kann durch die Reaktion von Selen mit elementarem Fluor dargestellt werden. Es ist zwar reaktiver als Schwefelhexafluorid, reagiert aber unter Normalbedingungen nicht mit Wasser.
Die wichtigsten Selenhalogenide sind die Tetrahalogenide, ein Selentetraiodid konnte allerdings nicht synthetisiert werden. Die Tetrahalogenide können aus den Elementen dargestellt werden. Sie können als Lewis-Basen unter Bildung von :SeX3+ wie auch als Lewissäuren (Bildung von SeX62−) reagieren. Die mit allen Halogenen bekannten Dihalogenide und Monohalogenide sind instabil.
Selenorganische Verbindungen
Selenorganische Verbindungen treten hauptsächlich mit den Oxidationsstufen <II, II und IV auf. Die selenorganischen Verbindungen umfassen im Wesentlichen folgende Substanzgruppen;
- Selane (organische Selenide) RSeR, z. B. Dimethylselenid
- Diselane (Diselenide) RSeSeR
- Triselane (Triselenide) RSeSeSeR
- Selenole RSeH
- Selenenyle RSeX
- Selenoxide R–Se(=O)–R
- Selenone R2SeO2
- Selone R2C=Se, die Selenanaloga der Ketone
Selenpolykationen
Durch vorsichtige Oxidation von Selen können zahlreiche Selenpolykationen Senx+ dargestellt und mit einem geeigneten Gegenion kristallisiert werden. Das Gegenion muss eine schwache Lewis-Base sein, da die Selenpolykationen verhältnismäßig starke Lewissäuren sind. Geeignete Oxidationsmittel sind häufig Halogenide der Übergangsmetalle, die bei Temperaturen von typischerweise 200 °C direkt die gewünschte Verbindung ergeben:
Häufig ist die Kristallisation unter den Bedingungen des chemischen Transports erfolgreich, bisweilen müssen aber wasserfreie Lösungsmittel wie Zinn(IV)-chlorid oder Siliciumtetrabromid verwendet werden.
Ist das Metallhalogenid kein geeignetes Oxidationsmittel, wie das bei Halogeniden der Hauptgruppenelemente in der Regel der Fall ist, können die entsprechenden Tellurtetrahalogenide als Oxidationsmittel verwendet werden:
Durch Variation des Gegenions und des Reaktionsmediums konnte eine große Vielfalt von Polykationen dargestellt werden; auch gemischte Selen-Tellurpolykationen sind durch entsprechende Wahl der Reaktanten der Synthese zugänglich.
Selen Preis